Die Corona-Krise hat die Globalisierung einmal mehr unmittelbar greifbar gemacht. Sie hat nicht nur hochkomplexe Gesellschaften unter Quarantäne gestellt und damit eine globale wirtschaftliche Rezession ausgelöst, sondern ist selbst eine Erscheinung der weltweiten Vernetzung.
Der Soziologe Stephan Lessenich hat 2016 ein Buch unter dem Titel “Neben uns die Sintflut” verfasst und lag mit dieser bildhaften Beschreibung als Zeitdiagnose wohl sehr richtig. Doch die Corona-Krise hat unter Beweis gestellt, dass die Sintflut weder nach uns, noch neben uns, sondern unter uns ist. Vor diesem Hintergrund ist die Corona-Krise nicht nur eine Herausforderung, sondern eine Chance: Sie bietet die Erkenntnis, dass globale Krisenerscheinungen mitten unter uns sind.
Sie waren es natürlich die ganze Zeit, denn schließlich sind die Krise der globalen Ungleichheit oder die Klimakrise keine neuen Erscheinungen, sondern globale Realitäten - doch die Perspektive des Globalen Nordens hat es ermöglicht, diese aus der eigenen Wahrnehmung auszuklammern.
Alle Krisenerscheinungen sind Einladungen zum vernetzten Denken - schließlich können wir die Krisen nicht mehr verstehen, wenn wir die Wirklichkeit in ihrer Komplexität reduzieren.
Die Komplexitätsreduktion ist somit auch nicht mehr funktional - denn wir verstehen nichts mehr, wenn wir nach einfachen Antworten suchen.
Menschen auf ein Leben in der Weltgesellschaft vorzubereiten; und das heißt eben auch darauf zu achten, dass aus der Konfrontation mit Komplexität nicht nur das kritische Bewusstsein wächst, sondern auch die Fähigkeit zu handeln, um diese Welt im Sinne einer gerechteren Welt mitzugestalten und um selbstwirksam zu werden, ist der zentrale Bildungsauftrag des Globalen Lernens.
Die Corona-Krise ist damit eine Chance par excellence für das Globale Lernen, denn wir haben als Weltgesellschaft nicht nur die Erfahrung des Nicht-Wissens hinnehmen müssen, sondern mussten auch lernen mit Unsicherheit und Ungewissheit zu leben und aus diesen heraus zu handeln.
Doch natürlich ist es auch so, dass die Corona-Krise die anderen Krisen, v.a. Klimakrise und die Krise der globalen Ungleichheit aktuell in den Hintergrund unserer Krisenwahrnehmung gedrängt hat - zumindest im Globalen Norden.
Nicht zuletzt lässt sich diese Verdrängung daran erkennen, dass die UN Weltklimakonferenz 2020 (Cop 26) verschoben wurde, wie auch wichtige Termine der UN Klima-Agenda. Lobbygruppen, u.a. jene der Automobilindustrie, fordern angesichts der Corona-Krise Pläne für schärfere EU-Klimavorgaben zu kippen oder zeitlich zu verschieben.
Die ungelöste, dramatische Problematik der Fluchtroute über das Mittelmeer, die Realität für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen, in Lagern, in denen Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln schwer zu befolgen sind, geraten zunehmend aus dem Fokus der medialen Aufmerksamkeit und werden damit auch aus der Krisen-Wahrnehmung gedrängt.
Die Krise von Billionen von Menschen, deren Einkommensquellen jetzt wegbrechen, da sie informeller Arbeit nachgingen und von der Hand in den Mund gelebt haben und für die Begriffe wie Kurzarbeitergeld, Bonus für Familien, etc. wie Märchen klingen. Auch diese ist kein Teil der Krisen-Wahrnehmung des Globalen Nordens.
Alle diese Krisen seien nur beispielhaft genannt, um die selektive Krisen-Wahrnehmung zu verdeutlichen. So unterschiedlich all diese Krisen auch sein mögen, so eint sie ihr Ursprung: die geopolitische und sozioökonomische Struktur der Welt. Die Krisen sind somit alle miteinander verwoben, beeinflussen oder verstärken sich sogar wechselseitig. Daher müssen wir alle auch immer näher zusammenstehen und Solidarität üben, statt weiter Gräben zwischen uns zu ziehen. Um Krisen nicht nur bestehen zu können, sondern sie als Anstoß zur strukturellen Veränderung zu begreifen, bedarf es nicht nur theoretischer, sondern auch praktischer Kompetenzen - und zu diesen Kompetenzen zählt auch die Fähigkeit zur Solidarität.
Wie nie zuvor sind daher jene Fähigkeiten des Globalen Lernens - des vernetzten Denkens und des Perspektivenwechsels - zentral, um verantwortungsvoll zu handeln und für eine Kultur der globalen Gerechtigkeit einzutreten. Ein vernetztes Denken, das strukturelle Gemeinsamkeiten aufdeckt, das Bewusstsein für Komplexität schärft und die Unabgeschlossenheit der eigenen Perspektive transparent macht. Ein Handeln, das Möglichkeiten aufzeigt und vielfältige Perspektiven öffnet. Perspektiven, die uns, als Bürger*innen dieser Einen Welt, in unserem Alltag aufrütteln, um lokal die globale Verantwortung zu leben.
Alejandro Ceballos (BtE-Referent)/ Jana Katharina Funk (BtE-Projektleitung)
Literatur und Links:
Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. Piper Verlag: München.
Overwien, B./ Rathenow, H. (2009): Globalisierung fordert politische Bildung. Politisches Lernen im globalen Kontext. Barbara Budrich: Opladen.
Scheunpflug, A./ Schröck, N. (2002): Globales Lernen. Einführung in eine pädagogische Konzeption zur entwicklungsbezogenen Bildung. Hrsg.: Brot für die Welt: Stuttgart.
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