Die Krisenwahrnehmung ist eine Frage der Perspektive und der Erfahrungen. Natürlich ändert sich auch meine Wahrnehmung. Für mich ist es beispielsweise sehr schwer, meine Gefühle des Kriegserlebens zu erinnern oder zu schildern, zumal ich gerade in Deutschland bin und mich in einer ganz anderen Situation befinde. Aber es gibt auch Situationen, die an Gefühle während des Kriegs in Syrien erinnern.
Ganz am Anfang der Coronakrise war ich einmal unterwegs, um Lebensmittel zu kaufen. Ich sah mich um und sah völlig leere Straßen. Die Menschen waren aus Angst zu Hause geblieben. Es herrschte Unsicherheit und niemand wusste, wie es weitergehen wird.
Es war das erste Mal in Deutschland, dass ich etwas Ähnliches fühlte, wie damals schon in Aleppo, als der Krieg in Syrien begann. So überlagern sich die verschiedenen Perspektiven und die verschiedenen Erfahrungen. Was sie beide in diesem Moment eint, ist die Angst vor dem Unbekannten, die ungewisse Zukunft und die Sorge um die Lieben.
Vielleicht ist es dieses Empfinden von Unsicherheit, das die Menschen dazu bringt nun auch in Deutschland näher beieinander zu stehen. Denn es war sehr interessant mitzuerleben, was Menschen in der Coronakrise tun, um anderen Menschen, die weniger Ressourcen haben, alt oder krank sind, zu helfen. Für mich ist es eine der erfreulichsten Erfahrungen, an die ich mich aus dem Krieg erinnern kann, während ich in der Corona-Zeit in Deutschland lebe: Menschen helfen einander; ohne institutionellen Rahmen.
Deutschland ist ein sehr geregeltes Land. Wenn es zum Beispiel ein Problem mit einem Kind gibt, dann können Sie sich an das Jugendamt wenden. Das Versicherungssystem hilft in medizinischen Notlagen und im Allgemeinen findet man auch immer eine zivilgesellschaftliche Organisation, an die man herantreten kann, wenn man Hilfe benötigt. Die Hilfe ist formal geregelt.
In einem Land, wie Syrien, ist die Hilfe näher an den Menschen, sie ist informell geregelt. Die Menschen sind viel stärker auf wechselseitige Hilfe angewiesen. Die Corona Pandemie hat auch in Deutschland dieses geregelte System gesprengt. Ich sah Angebote für Nachbarschaftshilfen, oder Studierendeninitiativen, die hilfebedürftigen Menschen Unterstützung im Alltag geleistet haben. Menschen haben auf einmal anderen fremden Menschen Hilfe angeboten – haben ihnen Essen besorgt und sich um sie gekümmert. Diese Menschlichkeit werde ich nicht vergessen und sie erinnert mich an meine eigene Fluchterfahrung. Die Hilfeleistungen der Menschen hier in Deutschland erinnern mich an Situationen der Flucht, da Menschen ihre Häuser verlassen und fliehen mussten. Dabei traf man immer auf Menschen, die unterstützen und helfen wollten. Eine solche Kultur der Menschlichkeit ist wichtig.
Auch in Syrien bleibt sie wichtig, denn die Situation in Syrien ist weiterhin angespannt. Wer heute in Syrien lebt, wartet auf den Ausgang des Krieges oder auf das, was man im Sport "die verlorene Zeit" nennt. Alle sind müde und warten auf das Ende.
Nach fast zehn Jahren sind alle Parteien zu dem Schluss gekommen, dass ein militärischer Sieg unmöglich ist, und dass sie eine friedliche politische Lösung und Regelungen finden müssen, die alle Parteien zufrieden stellen oder zumindest einen kleinsten gemeinsamen Nenner darstellt. In der Zwischenzeit haben alle kämpfenden Parteien die Hände schussbereit am Abzug, denn was bisher vereinbart wurde, ist eine Deeskalation der Gewalt, und kein Waffenstillstand.
Die Situation des syrischen Volkes ist daher sehr schwierig, denn nach diesem langen Krieg leben mehr als 80% der Menschen unter der Armutsgrenze. Der Wert des syrischen Pfundes ist dramatisch gesunken und das Durchschnittseinkommen des Volkes beträgt nicht mehr als 20 Dollar pro Monat.
Soziale Distanzierung und Lockdown waren die Lösung für die Corona-Krise in Europa. Normalerweise wird ein Land wie Syrien, das kein gut organisiertes Gesundheitssystem hat, versuchen, der Corona-Krise ähnlich wie die „entwickelten“ Länder zu begegnen, aber natürlich kann der Lockdown unter den derzeitigen Umständen in Syrien nicht durchgesetzt werden, da die Gesellschaft in zwei Hälften gespalten ist.
Die eine Hälfte sind die Arbeiter, die täglich mehr als einer (meist informellen) Arbeit nachgehen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Für sie kommt eine Ausgangssperre nicht in Frage – denn sie könnten sich das schlichtweg nicht leisten.
Die zweite Gruppe sind diejenigen, die das Glück haben, finanzielle Unterstützung von Verwandten zu erhalten, die in der Regel im Ausland leben. Die müssen immer noch ausgehen, um sich Lebensmittel wie Reis, Öl, Zucker und andere Dinge des täglichen Bedarfs, wie zum Beispiel auch Gas, zu besorgen. Um diese Bedürfnisse zu befriedigen, müssen auch sie schwierige Situationen auf sich nehmen – sie müssen lange Zeit in Schlangen warten, um die Lebensmittel zu erhalten, die sie benötigen, wenn sie überhaupt finden, was sie brauchen.
Es gibt in Syrien so viele Gründe sich Sorgen zu machen: das Einkommen, die alltäglichen Notwendigkeiten und andere Kriegskomplikationen. Vielleicht überdecken diese alltäglichen Sorgen des Überlegens die Coronakrise.
Ich erinnere mich von den ersten Kriegsmonaten bis heute daran, dass immer, wenn ich mit einem Freund oder Verwandten spreche, solche Dinge gesagt werden wie: "Letzte Woche wurde nicht viel gekämpft, es ist mit Sicherheit das Ende", oder so etwas Ähnliches: "Ich habe gehört, dass es ein wichtiges Treffen zwischen Putin und Trump gibt, um den Krieg zu beenden". Dieser Optimismus und diese Hoffnung sind meiner Meinung nach das, was den Menschen in Syrien hilft und sie davon abhält, neuen Schwierigkeiten, wie der Coronakrise zu viel Raum in ihrem Alltag einzuräumen. Die Menschen in Syrien hoffen, dass der Krieg ein Ende hat, die Menschen hier, dass Corona so plötzlich gehen wird, wie es gekommen ist. Doch in beiden Fällen wird die Welt eine andere sein.
Saad Saad
BtE Referent - Er arbeitet zu Themen der Flucht und Migration.