Am Freitag, den 13. März 2020, verkündete Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die umgehende Schließung aller Schulen. Spätestens seit diesem Tag hält ganz Deutschland angesichts dieser unvergleichbaren Krise für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft den Atem an. Als „größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ bezeichnete Bundeskanzlerin Merkel die Pandemie. Das unverzügliche und konsequente Handeln der Bundesregierung wird dem Ausmaß der Krise auch durchaus gerecht. Bilder wie die aus Italien hätten wohl die wenigsten von uns gerne gesehen, wären aber ohne die Unterstützung der Bevölkerung für die Einschränkungen kaum zu verhindern gewesen.
Und dennoch fällt bei genauerer Betrachtungsweise eine seltsam verengte Sichtweise auf die multiplen Krisen unserer Zeit auf. Aus deutscher Sicht ist das Alltagsleben der Bürger*innen von der Corona-Pandemie natürlich am stärksten verändert worden. Verfolgt man jedoch den wissenschaftlichen Diskurs über die größten Risiken für menschliches Wohlergehen, reiht sich die Corona-Pandemie in eine ganze Reihe von nicht abzuschätzenden Krisen ein. Die meisten davon geschehen nicht aufgrund von Wirtschaftseinbrüchen oder Pandemien, sondern sind ökologischer Natur – was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sie trotzdem menschengemacht sind.
Das Weltwirtschaftsforum (WEF) etwa – welches nicht gerade als Lobbygruppe für Ökologie bekannt ist – schätzt die Klimakrise und das Artensterben zusammen mit Massenvernichtungswaffen als die drei größten Risiken der Menschheit überhaupt ein. In ihrem „Weltrisikoindex 2020“ übertrifft der zu erwartende Schaden bei ausbleibendem Kampf gegen die Klimakrise selbst den von Massenvernichtungswaffen. Von den zehn Risiken mit den schlimmsten Auswirkungen sind gleich fünf ökologische. Gleichzeitig wird diesen fünf auch noch die höchste Wahrscheinlichkeit eingeräumt, tatsächlich einzutreten (Abbildung 1, Global Risk Index 2020. Quelle: World Economic Forum).
Diese Risiken beschreiben die drängendsten Krisen unserer Zeit – gemessen an ihren Auswirkungen ebenso wie an der Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich eintreten.
Ein wissenschaftlicher Blick auf diese Risiken verrät noch mehr über ihr Ausmaß. Sowohl die globale Erwärmung als auch der Verlust der Biodiversität werden von der Wissenschaft als sogenannte „Planetare Grenzen“ klassifiziert. Bei den Planetaren Grenzen handelt es sich um neun ökologische Bereiche, die im Wesentlichen die Entwicklungsfähigkeit der Menschheit garantieren. Eine Sprengung dieser Grenzen – also etwa eine Erderwärmung von mehreren Grad Celsius, Aussterben der meisten Arten, oder Unfruchtbarkeit der Böden – steht wie oben gezeigt durchaus in Aussicht.
Die Tragweite dieser Erkenntnis kann gar nicht weit genug eingeschätzt werden. Sind die Planetaren Grenzen gesprengt, werden die grundsätzlichsten Voraussetzungen für all das, was wir Wohlstand, Glück oder Fortschritt nennen, untergraben. Deswegen wird der Bereich innerhalb dieser Grenzen auch „sicherer Handlungsraum für die Menschheit“ genannt. Gleich vier dieser neun Bereiche stehen bereits dicht vor der
Belastungsgrenze. Die Klimakrise und die Landübernutzung nehmen bereits gefährdende Ausmaße an, der Verlust der Artenvielfalt ebenso wie der Stickstoffeintrag sind sogar noch weiter fortgeschritten (Abbildung 2, © W. Steffen et al., Science 347, 1259855 (2015). DOI: 10.1126/science.1259855
Quelle: Deutsche Umwelthilfe, <link https: www.duh.de projekte planetare-grenzen>www.duh.de/projekte/planetare-grenzen/).
Die Coronakrise bedroht unsere Gesundheit ebenso wie die kurzfristige Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Es ist richtig, sie wie eine Krise zu behandeln und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung zu ergreifen. Im Vergleich zu den ökologischen Krisen sticht aber vor allem ihre Kurzfristigkeit und Vergänglichkeit hervor. Zwar werden die derzeit auf den Weg gebrachten Konjunkturpakete die Struktur unserer Gesellschaft vermutlich das ganze Jahrzehnt über prägen, doch eine Sprengung der Planetaren Grenzen würde unkontrollierbare Rückkopplungseffekte auslösen. Damit würde die Grundlage menschlichen Lebens auf unabsehbare Zeit aus den Fugen geraten.
Doch eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung wird dem Ausmaß der ökologischen Krisen nicht gerecht. Eine genauere Betrachtung der gegenwärtigen Lage ist nötig, um die Klimakrise auch als politische, soziale, kulturelle und ökonomische Krise zu begreifen. Dafür hilft es, die Klimakrise aus der Sichtweise des Globalen Südens heraus zu betrachten, um die deutsche Perspektive zu erweitern.
Oftmals wird die Klimakrise im deutschen Kontext auf folgende naturwissenschaftliche Kausalkette reduziert: Fossile Brennstoffe stoßen Treibhausgase aus und diese heizen das Klima auf. Dieser Logik entsprechend wäre lediglich eine Abkehr von fossilen Brennstoffen nötig und das Problem wäre gelöst.
Doch diese Vorstellung kann aus einer marginalisierten Perspektive des Globalen Südens mindestens verwundern. Eine Sichtweise kann dies sehr deutlich untermauern: die der Fidschi-Inseln im Südpazifik, Ozeanien.
Die Fidschi-Inseln werden schon heute besonders hart von der Klimakrise getroffen. Die allermeisten Bewohner*innen wohnen direkt am Meer. Doch das steigende Meerwasser dringt beständig in ihr Land ein, Jahr um Jahr noch ein Stückchen weiter. Es versalzt die Böden und macht so Landwirtschaft unmöglich. In der Folge müssen die Menschen schon heute ihr Land verlassen, und das, obwohl Land aus indigener Perspektive heilig ist. Nach fidschianischer Weltanschauung ist Land nicht unbelebt und „neutral“. Land lebt im wahrsten Sinne, es ist Heimstätte für alles nicht-menschliche Leben, das neben Tieren oder Pflanzen auch Steine und Erden durchtränkt. Es ist am ehesten als ganzheitliche Weltanschauung zu beschreiben, in der alle Materie im Kosmos von Lebensgeist durchdrungen und somit miteinander verbunden und verknüpft ist. Ebenso sind auch wir Menschen nicht in die Welt gesetzte vereinzelte Wesen, sondern untrennbar mit Land und Kosmos verbunden. Jedes Land beherbergt die Seelen der dort verstorbenen, und so hat das seit Generationen bewirtschaftete Land für fidschianische Familien oft besondere Bedeutung. Durch Umsiedelung fühlen sich viele Menschen von den Seelen ihrer Ahnen entwurzelt, sie verlieren neben der materiellen auch ihre spirituelle Lebensgrundlage.
Neben dem direkt durch die Klimakrise hervorgerufenen Leid wiegt auch der wirtschaftliche Schaden schwer - ein beträchtlicher Teil des Bruttoinlandproduktes muss jedes Jahr auf die Anpassung an die Klimakrise verwendet werden. Diese Anpassungsmaßnahmen reichen vom Bau von Dämmen über unwetterfestere Häuser bis zu wirtschaftlichen Kompensationszahlungen für verarmte Fischer*innen Und das, obwohl der Beitrag der Fidschis zum Klimawandel deutlich unter 1% liegt. Die Industrienationen dieser Welt hingegen zeigen sich für 80% der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich. (Abbildung 3: Vunidogoloa, das erste fidschianische Dorf, das wegen steigender Meeresspiegel verlassen und an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde. Quelle: Fiji Government).
Seit dreißig Jahren versuchen die Fidschi-Inseln die Klimakrise mittels internationaler Abkommen einzudämmen. 1992 schien es, als seien die Bemühungen von Erfolg gekrönt: In Rio de Janeiro wurde das erste Klimaschutzabkommen unterzeichnet. Doch die darauffolgende Realität war ernüchternd. Durch die Unverbindlichkeit des Abkommens wurde es von beinahe allen Ländern ungehindert gebrochen. Deutschland zum Beispiel hatte sich 1992 auf ein CO2-Budget geeinigt – also eine gewisse Menge an Tonnen CO2– die sie in den darauffolgenden 60 Jahren bis 2050 maximal emittieren wollte. Das Ergebnis: Die Menge war nicht nach 60, sondern bereits nach 15 Jahren aufgebraucht.
An diesen Ausführungen wird deutlich: Bei der Klimakrise handelt es sich um eine globale politische und soziale Gerechtigkeitskrise, die seit 30 Jahren auf eine Lösung wartet. Anders als oftmals behauptet, sitzen wir eben nicht „alle in einem Boot“. Wenn überhaupt, dann ist es ein Schiff mit ganz unterschiedlichen Klassen. Das Schiff kollidiert gegenwärtig mit einem Eisberg, aber die unteren Klassen sinken zuerst. Die oberen hingegen treiben das Schiff wider besseres Wissens noch weiter ins Verderben und werden sich im letzten Moment noch in Rettungsbooten abseilen können. Aus einer Geschichte der Gleichheit wird die größte Gerechtigkeitsfrage unserer Zeit – die Frage nach Ursachen und Folgen der ökologischen Zerstörung.
Als „größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“ hatte Angela Merkel die Corona-Pandemie vor allem deswegen bezeichnet, weil sie ein ungewöhnlich hohes Maß an Solidarität erfordere. Das stimmt durchaus, aber betrachtet man etwa die Klimakrise aus einer fidschianischen Perspektive, überrascht der Superlativ nichtsdestotrotz. Die Solidarität des Globalen Nordens mit dem von der Klimakrise so viel stärker gebeutelten Globalen Süden – Fidschi ist hier nur ein Beispiel von vielen – bleibt seit Jahrzehnten aus. Dazu kommt noch, dass der Globale Norden auch noch Hauptverursacher und -treiber der Klimakrise ist. Folglich sollte er eigentlich nicht zu Solidarität angehalten, sondern vielmehr zur Verantwortung verpflichtet sein.
Dieser Blick auf die Corona-Pandemie erweitert unsere Betrachtungsweise. Sie ist keineswegs die einzige gegenwärtige Krise, sondern eher (für den Globalen Norden) die sichtbarste. Bezüglich ihres Ausmaßes wird sie von den ökologischen Krisen jedoch in den Schatten gestellt. Und bei diesen handelt es sich – insbesondere bei der Klimakrise – nicht nur um kurzfristige Erscheinungen, die improvisierter Lösungen bedürfen, sondern um jahrzehntealte Phänomene, für die noch keine Lösung gefunden ist. Dabei wäre es heute dringender denn je.
Vincent Gewert
BtE Referent - Er arbeitet hauptsächlich zu Themen globaler Gerechtigkeit, zum Klimawandel und zu postkolonialen Themen.