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Die Corona-Pandemie in Äthiopien

Heute ist der 09. Juni und es gibt in Äthiopien insgesamt 2336 auf COVID-19 positiv getestete Menschen - die Mehrzahl davon lebt in der Hauptstadt Addis Abeba. Seit geraumer Zeit sind auch hier Maßnahmen eingeführt, welche die Ausbreitung des Virus unterbinden sollen. Die Ausrufung des Ausnahmenzustandes am 8. April durch die äthiopische Regierung hat bei vielen Menschen für Unruhe gesorgt, nicht allein aus Gründen zur Bekämpfung des Virus, sondern auch, da die Regierung das Instrument Ausnahmezustand in der Vergangenheit immer wieder für teilweise gewaltsames Vorgehen gegen die Bevölkerung genutzt hat. So auch während den regierungskritischen Protesten zwischen 2015 und 2018, welche aufgrund der gestiegenen Unzufriedenheit mit der Regierung immer heftiger und schließlich gewaltsam mithilfe des Ausnahmezustandes beendet wurden.

Die Maßnahmen in Äthiopien klingen erst einmal sehr ähnlich zu denen in Deutschland. Vor dem Betreten von Geschäften, Banken und öffentlichen Gebäuden müssen die Hände gewaschen und desinfiziert werden und es gibt eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Schulen und Universitäten sind weitgehend geschlossen und die Oberhäupter der christlich-orthodoxen sowie muslimischen Glaubensgemeinschaften haben die Menschen aufgefordert, Kirchen und Moscheen vorerst zu meiden. Da Äthiopien genauso wie Deutschland ein Föderalstaat ist, sind die ergriffenen Maßnahmen zwischen den äthiopischen Bundesländern teilweise sehr unterschiedlich.  Das Beunruhigende ist, dass das in Deutschland und Europa gut praktizierbare “Social Distancing” in einem Land wie Äthiopien schwer umzusetzen ist. Dieses Land ist in allem das Gegenteil von sozialer Distanz: Äthiopische Mahlzeiten werden typischerweise von einer gemeinsamen Platte mit den Händen verzehrt und es wird sich gegenseitig als Zeichen von Respekt und Freundschaft gefüttert.

Ich arbeite für eine Regierungsorganisation in Addis Abeba und gehöre damit zu einem kleinen Privilegierten-Kreis. Ich habe die Möglichkeit, mich in meine Wohnung zurückzuziehen, um mich zu distanzieren oder mit meinem eigenen Auto einkaufen zu fahren, um menschlichen Kontakt gering zu halten. Ganz anders ist die Situation für die Mehrheit der Äthiopier*innen. Die meisten Menschen müssen für viele Dinge täglich das Haus verlassen. Zusätzlich leben viele in Großfamilien in kleinen Häusern oder Apartments, die es unmöglich zulassen, den ganzen Tag im Haus zu verbringen. Mit Nachbarn geteilte Sanitäranlagen bilden ein weiteres unvermeidbares Risiko. Körperliche Nähe ist auch ein Teil der sozialen Konvention: zur Begrüßung wird sich umarmt und Händchen halten ist hier nicht nur ein Zeichen der Zuneigung zwischen zwei sich Liebenden, sondern wird unter Frauen sowie Männern als Ausdruck von Freundschaft angesehen. Ein Leben in sozialer Distanz ist daher für die Meisten kaum vorstellbar.

Der Umgang der äthiopischen Bevölkerung mit dem Virus hängt auch stark mit der von großer Skepsis geprägten äthiopischen Kultur zusammen. Kollegen und Freunde berichteten mir, dass diese vorsichtige Zurückhaltung gegenüber allem Neuen und Unbekannten schon von den Großeltern während der Kaiserzeit gelebt wurde und damit schwer auf eine Quelle zurückzuführen ist. Obwohl die Angst vor einer Erkrankung mittlerweile auch die ländlichen Gebiete erreicht hat, ist doch Corona für Viele noch eine weit entfernte unbekannte Bedrohung, deren Bekämpfung im Alltag nicht unbedingt immer ernst genommen wird. Deshalb versucht die Polizei mit kritisierbaren Maßnahmen, die Menschen dazu zu bewegen, zumindest ihre Masken (richtig) zu tragen. Beispielsweise werden eher willkürlich Zuwiderhandelnde festgenommen und müssen die Nacht im Fußballstadion der Stadt unter freiem Himmel verbringen. Je nachdem, wie viele Personen dort festsitzen, kann sich das sehr kontraproduktiv auswirken.

Die Tage, kurz nachdem das Virus hier im Land angekommen war, waren geprägt von enormer Unsicherheit und teils heftigen Vorurteilen gegenüber allem Ausländischen. Es kam zu verbalen bis hin zu vereinzelt physischen Attacken auf offensichtlich ausländisch aussehende Menschen. In der ausländischen Gemeinschaft hat dies zu extremer Unsicherheit und zur Ausreise einiger Kollegen sowie ganzer Organisationen geführt. Auch ich habe in diesen Tagen verbale Attacken auf meine Person erlebt. Dabei waren die Meisten zwar eher zurückhaltend und haben mir nur „Corona, Corona!“ nachgerufen. Obwohl ich mich ohne Weiteres einfach in meine Wohnung in Sicherheit begeben kann, brauchte ich einige Zeit, um mit diesem Gefühl umzugehen und realisierte, dass ich in diesem Land wohl nie als Einheimischer gesehen werden würde.

Nach einigen Tagen konnte der äthiopische Ministerpräsident Dr. Abyi Ahmed die Situation durch einen Fernsehappel an seine Landsleute beruhigen. Seitdem fühlt sich das Leben in Addis Abeba ein bisschen an wie ein Pulverfass. Die Zahl der positiv Getesteten steigt zwar kontinuierlich an, allerdings nicht mit europäischer Schnelligkeit und Intensität. Manche meinen, das liege an der viel geringeren Anzahl an täglich durchgeführten Tests. Eines jedoch ist sicher: die eher entspannten Maßnahmen und die geringe Anzahl an bekannten Fällen in Äthiopien beruhigen die Bevölkerung und lassen die Situation nicht ausarten. Die Versorgung ist bisher allen Vorhersagen zum Trotz verhältnismäßig stabil. Allerdings bleibt abzuwarten, wie sich diese unklare Situation entwickelt, auch vor dem Hintergrund eines schon unter normalen Umständen fast überlasteten Gesundheitssystems.

Die Corona Pandemie ist nicht die einzige Krise in Äthiopien. Die im Süden anhaltende Heuschrecken-Plage zerstört schon seit einigen Monaten die Ernte und lässt die Ernährungssicherheit im Land noch fragiler erscheinen. Zusätzlich mussten die ersten freien Wahlen, datiert auf den 29. August 2020, aufgrund der Pandemie auf ungewisse Zeit verschoben werden, wodurch Oppositionsparteien mit teils gewaltsamen und heftigen Protesten reagiert haben. Obwohl es nicht die ersten Wahlen für die Äthiopier*innen wären, ist es doch die erste realistische Chance für wirklich freie demokratische Wahlen, da der jetzige Ministerpräsident das jahrzehntelange Verbot von Oppositionsparteien aufgehoben hat. Zudem könnte ein weiterer Konflikt mit Ägypten entstehen, da Äthiopien ohne ägyptische Zustimmung damit begonnen hat, seinen neuen Renaissance-Staudamm zur Stromgewinnung am blauen Nil mit Wasser zu füllen und damit die Wasserversorgung Ägyptens zu gefährden. Äthiopien ist daher gefordert mit weitaus mehr Eventualitäten umzugehen.

Vor diesem Hintergrund sind Vorhersagen zu einer möglichen Beruhigung besonders schwer. Das Leben in Addis Abeba ist aber vorerst ruhig und absolut sicher. Diese von Manchen als „Ruhe vor dem Sturm“ betitelte Situation, lässt ein Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung entstehen, welche viele unterschiedliche Meinungen und Emotionen bei den Menschen auslöst. Von fast schon „hysterisch vor Angst“ bis hin zu „absolut entspannt“ ist mir seit dem Beginn der Pandemie schon alles untergekommen. Zumindest für die Menschen vor Ort würde eine Verschärfung der Situation nichts Gutes heißen. Eine mögliche Ausgangssperre nach südafrikanischem Vorbild würde auch hierzulande die Arbeitslosigkeit nach oben schnellen lassen und besonders die ärmere Bevölkerung wäre auch aufgrund von fehlenden staatlichen Sozialhilfestrukturen von einer fatalen Notlage getroffen. Allerdings scheint die äthiopische Regierung von den Beispielen aus anderen afrikanischen Staaten bisher gelernt zu haben und verfolgt eine Strategie zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus bei gleichzeitiger weitgehender Fortsetzung des öffentlichen Lebens und der wirtschaftlichen Tätigkeit.

Johannes Huber
BtE Referent - Er arbeitet schwerpunktmäßig zu Themen der nachhaltigen Entwicklung, zu den Sustainable Development Goals und zu Fragen der Wasserknappheit in der globalisierten Welt.