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Aus Krisen lernen - Eine Perspektive aus Peru

Im Folgenden möchte ich einige Punkte zur Reflektion in Bezug auf die gefährdeten Gruppen, Agrarindustrie versus Kleinbäuerliche Familienbetriebe und Aspekte zum Gesundheitssystem ansprechen.

Am Freitag, den 6. März wird der erste Fall von Covid-19 festgestellt. Und als am Sonntag den 15. März, Präsident Vizcarra seine Ansprache hält und sein Dekret des Ausnahmezustands und der obligatorischen sozialen Isolierung (nationale Quarantäne) verkündet, gibt es in Peru bereits 71 Covid-19 Infizierte. Doch Corona ist nicht nur die am stärksten wahrgenommene Krise in Peru.

Peru verfügt über drei Klimaregionen (Küste, Andengebirge, Amazonía) und über immense biologische Vielfalt sowie Reichtum an Gold, Silber und Kupfer. Alles wertvolle Ressourcen. Doch an den Rohstoffvorkommen wird starker Raubbau betrieben, der Umwelt und Bevölkerung gleichermaßen belastet. Zudem ist das Land stark vom Klimawandel betroffen. Anden-Gletscher schmelzen, Klimaschwankungen wie El Niño zerstören Erntezyklen. Sie entziehen den Bauern im Hochland wie auch den Fischern am Pazifik ihre Lebensgrundlage.

Einer der Pfeiler des peruanischen „Entwicklungsmodells“ beruht auf der exportorientierten Agrarindustrie. Hierbei spielt Ica, eine Wüstenstadt 300 Kilometer südöstlich von Lima, eine sehr wichtige Rolle. Es scheint hier ganzjährig die Sonne und trotz Dürre gelingt es, dank der Flüsse, die von den Anden zur Küste hinabfließen, das notwendige Wasser für die Landwirtschaft aufzubringen. Die landwirtschaftlichen Erträge hängen jedoch  von der künstlichen Bewässerung ab.

Ich befinde mich im Augenblick der Verkündung des Dekrets in Ica. Entlang der Panamericana, Nord-Süd-Achse, sehe ich Landarbeiter-Gemeinden und Agrarindustriekonglomerate aber kaum kleinbäuerliche Familienbetriebe. Insgesamt 40% der land-, forst- und viehwirtschaftlich nutzbaren Böden befinden sich in den Händen von privaten Unternehmen. Dies ist in Costa, Sierra und Selva so. Hinzu kommt, dass in- und ausländische Investoren immer häufiger mit kleinen landwirtschaftlichen Produzenten und indigenen Gemeinschaften um fruchtbares Land konkurrieren.

Landhandel und Landinbesitznahme (land trafficking und land grabbing) sind in Peru nicht selten, auch nicht die Ausstellung falscher Landtitel. Dies führt nicht nur zur Konzentrierung des Landes auf immer weniger Besitzer sondern auch insbesondere im Amazonasgebiet zu immer stärkeren Abholzung. Skrupellose Geschäftsinhaber, illegale Holzfäller und Holzhändler versuchen mit allen Methoden immer mehr Land zu erwerben. Auf diese Weise wird die Abholzung stark vorangetrieben. Die Verlierer sind Natur und kleinbäuerliche Familienbetriebe, welche ca. 70 Prozent der Grundnahrungsmittel der Peruaner produzieren und so die Ernährung der Bevölkerung sicherstellen. Sie bewirtschaften ihr Land häufig seit Generationen. Eingetragene Landtitel sind ihnen oft noch fremd, für sie gilt das informelle Gewohnheits- oder Landnutzungsrecht.

Und genau von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft hängt ein Groβteil der Versorgung der Märkte mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen ab und die Sicherung der Ernährung der Bevölkerung. Aber just Untersuchungen auf verschiedenen Märkten stellten fest, dass 40 bis 60% der Händler an Covid-19 erkrankt sind und deswegen geschlossen werden mussten.

Die Familien im Amazonasgebiet am Ucayali-Fluss auβerhalb der Groβstädte, wie Pucallpa, bewegen sich in den Landgemeinden frei und fühlen sich sicher. In der 500.000 Einwohnerstadt Pucallpa ist die Bewegungsfreiheit jedoch sehr eingeschränkt.

In verschiedenen Familien wird über heftige Gliederschmerzen geklagt. Ist es Dengue oder COVID-19? Es gibt keine medizinische Anlaufstation, keine professionelle Hilfe, die die Betroffenen in Anspruch nehmen können, wenn sie Angst und Ungewissheit überkommt?

Das peruanische Gesundheitssystem steckt aus diversen Gründen in Schwierigkeiten. Es fehlt an staatlichen Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Zudem verzögert sich die Fertigstellung von Krankenhäusern aus ungeklärten Gründen. So ist es für Betroffene nicht einfach, medizinische Hilfe über staatliche Gesundheitszentren in Anspruch zu nehmen. Oft müssen Patienten auf Gängen oder in Notzelten vor einem Krankenhaus stundenlang auf Behandlung warten. Intensivpflegebetten sind ohnehin sehr rar. Und um die wenigen vorhandenen Plätze konkurrieren dann auch noch Covid-19-Kranke mit anderen-Erkrankten. Und leider spielt auch das Geld eine Rolle, wer den Vorzug für den Intensivpflegeplatz bekommt.

Hinzu kommt, dass die Medikamentenpreise ins Unermessliche steigen. Der Markt für medizinische Produkte befindet sich zu 80% in der Hand von 2 Apothekenketten, die beide zur Intercorp-Gruppe gehören. Intercorp ist ein peruanischer Konzern und zählt zu den 50 bedeutendsten Konzernen Lateinamerikas.

Die Situation in Lima veranlasst nun die Zuwanderer aus dem Amazonasgebiet und Andenhochland, die im informellen Sektor erwerbstätig sind, zurück in ihre Gemeinde zu gehen. Viele verloren ihre Möglichkeit, Einkommen zu erwerben, und die Möglichkeit, ihre Miete für ihre Wohnung oder Unterkunft zu bezahlen. So kommt es zu einer neuen Migrationswelle der Stadtflucht. Bis Ende 2019 kamen erst eine Million Venezolaner ins Land. Die neue Migrationswelle zurück auf das Land führt dazu, dass sich vor den Stadttoren von Lima mehr als 160.000 Menschen ansammeln, um mit ihrem letzten Hab und Gut auf eine Transportmöglichkeit zu warten, mit der sie zurück in ihre Heimatgemeinde kommen können, um die einst von ihnen verlassene Landwirtschaft wieder aufzunehmen (und sei es nur für Subsistenzlandwirtschaft). Einer der Gründe der damaligen Landflucht war, dass billige Importe von landwirtschaftlichen Erzeugnissen ins Land kamen, so dass Kartoffeln aus europäischen Ländern für die Herstellung von Pommes Frites den Vorzug erhielten. Für viele Familien bedeutete dies, dass der Anbau von Kartoffeln im Anden-Gebiet nicht mehr gewinnbringend war. Und auch die Rückkehr in die Heimat gestaltet sich nicht einfach, denn oft verlangen die Transportunternehmen ein Vielfaches vom eigentlichen Preis.

Besonders hart trifft es die indigene Bevölkerung. So ziehen es in der Provinz Ucayali viele Mitglieder der Shipibo-Conibo-Bevölkerung vor, sich in ihren Gemeinden vor COVID-19 zu schützen. Und da der peruanische Staat nicht über eine flächendeckende Infrastruktur verfügt, die eine lebensrettende Gesundheitsversorgung garantiert, hat die Bischofskonferenz erst den Präsidenten eindringlich bitten müssen, sich doch auch um diese Bevölkerungsgruppen zu kümmern.

Ansätze aus der peruanischen Zivilgesellschaft und staatliche Ansätze

In Peru kommt es zur Bildung von Solidaritätsinitiativen, so auch im Bereich der Psychischen Gesundheit, um die Auswirkungen der Pandemie zu verringern. Einer der Solidaritätsinitiativen ist Psicologos Contigo, bei der ich Mitglied bin. Dort bieten wir Familien aus ganz Peru während der Zeit der COVID-19-Quarantäne einen kostenlosen, persönlichen und vertraulichen Raum für emotionale Unterstützung an. „Fühlen, Denken und Handeln“ ist das Motto dieser Begegnung mit dem Psychotherapeuten. Viele Familien denken über ihre Situation und ihre Gefühle nach. Das Sprechen über ihre Erfahrungen und das Fühlen von Geborgenheit führt auch zu einer ersten Erleichterung ihrer Leidenserfahrung.

Mehr als 1.300 Tonnen Nahrungsmittel, Getränke, Hygieneartikel und Haushaltsgegenstände sammelte die Wohltätigkeitsorganisation „Hombro a Hombro“ von privaten Unternehmen, um gefährdete Familien versorgen zu können. Diese Spenden sollen an Familien gehen, die keinen Zugang zu einem Lebensmittelgutschein von S/ 380 (€ 100) monatlich und der Verteilung von Lebensmittelkörben des Staates kommen. Da diese Hilfen auf Dauer ohnehin nicht ausreichen, rief der Exekutivdirektor von "Hombro a Hombro" weitere Unternehmen auf, sich den Bemühungen des anzuschließen, um humanitäre Hilfe bereitstellen und kanalisieren zu können. Die Sammlung erfolgt in Abstimmung mit den Regierungsbehörden.

Ein Teil der humanitären Hilfe wird an die Büros der Organisation der Vereinten Nationen transferiert, um von dort an gefährdete Familien verteilt zu werden. Ein weiterer Verteilungs-Schwerpunkt wird das Nationale Integrale Programm für Familienfürsorge (Inabif) sein, und auch das Kulturministerium engagiert sich.

Laut Präsident Vizcarra stehen die Corona Zahlen am 6. Juni bei 103.700 erkrankten Personen und bei  82.700 genesenen Personen. 5.300 Erkrankte sind verstorben, 1062 Erkrankte liegen auf der Intensivstation und weitere 9500 Erkrankte liegen in einem Krankenhaus.

Als Teil des Ziels der Exekutive schätzte der Präsident jedoch, dass sich die Zahl der Krankenhausbetten bis Ende Juni von 10.000 auf 20.000 verdoppelt werden sollte und mit Bezug auf die Intensivstationen prognostizierte er einen Anstieg von 1.000 auf 2.000 Betten, um die Nachfrage der Bevölkerung zu sichern. "Das ist die Prognose, die das Gesundheitsministerium gemacht hat", sagte er.

Ein Ansatz aus der Globalen Partnerschaft

Terre des hommes setzt sich für die Umweltrechte von Kindern heute und für kommende Generationen ein, denn Kinder und Jugendliche sind wichtige Akteure des Wandels. Sie sind am meisten von den Folgen der Umweltverschmutzung, der Umweltzerstörung und des Klimawandels betroffen.

Terre des hommes hat Partner an seiner Seite, die wissen, wie eine nachhaltige Wirtschaft und Existenz erreicht werden kann. In Zusammenarbeit mit den jungen Menschen in den Gemeinden kann ein Beitrag zum Schutz und Erhalt der Lebensgrundlagen und zur Bewahrung ihrer Werte und Ihrer Kultur geleistet werden.

In den Gemeinden findet das traditionelle Konzept Sumak kawsay (= Buen Vivir) noch sehr hohe Wertschätzung. »Buen Vivir« ist ein komplexes Weltbild, das tief in der Kultur der andinen Völker verwurzelt ist. Im Mittelpunkt steht der Gedanke des »Guten Lebens«, weniger für das Individuum als vielmehr für die Gemeinschaft. Dessen Umsetzung soll im Gleichgewicht mit Natur, Umgebung und der lokalen Geschichte erfolgen. Durch technische Neuerungen wie der »Grünen Revolution« und die Verbreitung von »modernen« landwirtschaftlichen Methoden geraten jedoch viele traditionelle landwirtschaftliche Methoden in Vergessenheit, obwohl sie in den regionalen Gegebenheiten oft eine besser angepasste und nachhaltigere Alternative darstellen.

So erweist sich auch ein von terre des hommes gefördertes Projekt in der Anden-Gemeinde Quispillacta als eine wirksamere Alternative zu den modernen „Entwicklungskonzepten“ für den ländlichen Raum Perus. Durch terre  des hommes gelingt es den lokalen Partnerorganisationen, das Wissen um  die traditionellen Anbaumethoden wiederzubeleben. Im Mittelpunkt des Programms stehen Techniken der Speicherung und Erhaltung von Trinkwasserressourcen, der Einsatz von an Trockenheit angepasste Saatgutsorten und die biologische Behandlung von Pflanzen- und Tierkrankheiten.

Es finden Methoden Anwendung, die der Kreislaufwirtschaft entnommen sind und so den Familien kaum Kosten verursachen. Landflucht und Abwanderung in die Städte aus der Not heraus sind deutlich rückläufig, weil die Gemeinden im Hochland wieder eine Existenzgrundlage sehen. Mädchen gehen zur Schule statt Vieh zu hüten. Junge Menschen, die gezielt zur Weiterbildung in die Stadt zogen, kehren mit neuem Wissen in ihre Heimat zurück.


Harald Ort

BtE Referent - Er arbeitet zu Themen der nachhaltigen Entwicklung, zu globaler Partnerschaftsarbeit und zum Goldabbau in Peru.